Urgetreide: Renaissance von Einkorn, Emmer, Dinkel & Co.

Urgetreide sind Trend und damit wortwörtlich in aller Munde. Die Vorfahren von Weizen und Roggen erfreuen sich wachsender Beliebtheit und ergänzen das Angebot an Getreideprodukten durch geschmackliche Vielfalt und ihr abwechslungsreiches Nährstoffangebot. Bei aller Begeisterung für die wiederentdeckten Körner verlangt der Umgang mit Ihnen Erfahrung und Geduld. Nicht nur zuhause beim Kochen und Backen, auch der Anbau und die Verarbeitung in der Mühle wollen gekonnt sein. Was es mit dem Trend auf sich hat, wie die Urgetreide wiederentdeckt wurden, erfahrt Ihr in unserem Beitrag.

Urgetreide und Ernährung

Ernährungsphysiologisch unterscheiden sich Einkorn, Emmer und Dinkel – aufgrund Ihrer Verwandtschaft mit dem Weizen –  nur bei einigen Inhaltsstoffen: Einkorn beispielsweise verfügt über einen besonders hohen Gehalt an Carotinoiden und Tocolen, Vorstufen des Vitamin E. Emmer und Einkorn liefern beispielsweise mehr des Spurenelements Selen. Weichweizen liefert dafür ein mehr an gesundheitsrelevanten Ballaststoffen. Eine genaue Gegenüberstellung der Nährwerten findet sich im Fachartikel: "Alte Weizenarten neu entdeckt" aus der Ernährungsumschau 8/2016, der in der linken Infobox hier zum Download bereit steht. Ein wichtiger Punkt für alle Menschen mit Glutenunverträglichkeit: Als Weizenarten enthalten auch Einkorn, Emmer und Dinkel das Klebereiweiß Gluten und sind daher bei Zöliakie nicht erlaubt.

Backen mit Urgetreide: Tipps und Tricks

Produkten aus Einkorn und Dinkel spricht man ein nussiges Aroma zu, Emmer einen würzigen Geschmack. Dinkel lässt sich ähnlich gut wie Weizen verarbeiten. Emmer und Einkorn brauchen in der Verarbeitung Geduld und Erfahrung: Dazu gehören unter anderem längere Teigführung, Säuerung und sanftes Kneten. Gebäcke mit ihnen gehen oft nicht so gut auf. Sie lassen sich jedoch gut zu Pfannkuchen oder Waffeln verarbeiten oder liefern ihr typisches Aroma als Beimischung zu Weizen- oder Dinkelmehlen.

Dinkel

Teige aus Dinkel binden weniger Wasser als Weizenteige. Sie sollten schonend und langsam geknetet werden. Für mehr Volumen und Stabilität sollten die Teige zudem kühl und etwa doppelt so lang wie Weizenteige geführt werden.

Emmer

Emmerteige verhalten sich ähnlich wie Dinkelteige und erzielen ein ähnliches Volumen. Sie binden relativ wenig Wasser. Durch Verwendung von Sauerteig und Mehlkochstück kann jedoch Feuchtigkeit in den Teig gebracht werden.

Einkorn

Teige aus Einkorn binden nur wenig Wasser und bringen eher kleinvolumige Gebäcke hervor. Es empfiehlt sich vor allem die Zumischung zu backstarken Mehlen (z.B. Weizen 550). Auch Teige aus Einkorn sollten langsam und schonend geknetet werden. Eine lange, kühle Teigführung sowie Säuerung empfiehlt sich auch hier. Aufgrund der schlechten Teigstabilität sollten Brote nicht freigeschoben, sondern in Backformen gebacken werden.

Wenn Ihr Rezeptideen für Urgetreide sucht, probiert doch einmal unsere Dinkel-Emmer-Plätzchen oder das Dinkelkörnerbrot der Müllermeisterin Annelie Wagenstaller. Noch mehr Rezepte und Infos zu Urgetreide findet Ihr in unseren Buchtipps.

Getreideanbau: Zahlen und Fakten

In unserem letzten Blog-Beitrag haben wir mit Annelie Wagenstaller über das Trend-Thema Urgetreide gesprochen. Die Müllermeisterin fasziniert nicht nur die Abwechslung, die die alten Getreidearten in unsere tägliche Ernährung bringen, sondern auch die Vielfalt, die durch ihren Anbau unsere Kulturlandschaften bereichert. Heute stellen Weizen, Gerste, Roggen, Mais und Hafer den Schwerpunkt des landwirtschaftlichen Anbaus in Mitteleuropa dar. Ergänzt wird dieser durch den Anbau von Urgetreiden wie Dinkel, Einkorn, Emmer, Waldstaudenroggen und anderen selteneren Getreidearten. Trotz ihrer Beliebtheit stellen sie (noch) eine Nische in der Landwirtschaft dar. Nach aktuellen agrarstatistischen Angaben entfallen von den knapp 3,2 Millionen Hektar Gesamtanbaufläche für Weichweizen in Deutschland etwa 80.000 Hektar auf Dinkelweizen, das entspricht etwa 2,5 Prozent. Die Urweizen-Arten Emmer und Einkorn werden auf 3.200 Hektar angebaut und wachsen damit auf 0,1 Prozent der deutschen Weizenfelder. Eine Übersicht der Getreidearten findet Ihr hier.

Geschichte des Getreideanbaus

Woher kommen nun aber die sogenannten Urgetreide und was unterscheidet sie von den hierzulande gängigen Getreidearten Weizen und Roggen? Dafür müssen wir einen Blick in die Geschichte des Getreideanbaus werfen. Die Entwicklung des Getreideanbaus ist eng mit unserer menschlichen Entwicklungsgeschichte verbunden. Denn erst Ackerbau als Kulturtechnik ermöglichte den Übergang vom Jagen und Sammeln zur Sesshaftigkeit in Siedlungen. Was uns als heutige Lebensform ganz selbstverständlich erscheint, war vor etwa 10.000 Jahren eine wahre Revolution: Am Ende der letzten Eiszeit begannen Menschen im Nahen und Mittleren Osten, dem sogenannten fruchtbaren Halbmond, durch die Selektion und Kreuzung wilder Süßgräser Getreide als wichtige Nahrungsquelle zu kultivieren. Zu den wichtigsten Getreidearten entwickelten sich zunächst Einkorn und später Zweikorn, auch Emmer genannt. Daneben konnte Gommer, eine Weizenart mit roggenähnlichem Korn in der frühen Kultivierungsgeschichte nachgewiesen werden. Um etwa 4000 v.Chr. gab es eine Neuerung im Getreidespektrum: Der Nacktweizen, vorwiegend Hartweizensorten, kam aus dem Mittelmeergebiet nach Europa und entwickelte sich dort zu einer wichtigen Getreideart.

Einkorn und Emmer verschwinden

Einkorn (Triticum monococcum) und Emmer (Triticum dicoccum) sind heute die wohl bekanntesten Urgetreidearten, die zur Weizenfamilie gehören. Sie waren die Vorfahren der uns heute bekannten Arten Weichweizen (Triticum aestivum), Hartweizen (Triticum durum) und Dinkel (Triticum spelta). Ab dem frühen Mittelalter verschwanden die sogenannten Urgetreidearten in Mitteleuropa zugunsten von Roggen, Dinkel, Gerste und später dann Weich- und Hartweizen nach und nach von den Feldern. Denn im Hochmittelalter wuchs die Bevölkerung. Weizen lieferte für die Ernährung wesentlich mehr Körner pro Ähre und damit pro Hektar, als es die alten Arten taten. Schaut man sich zudem die Erträge unter heutigen Anbaubedingungen an – auch wenn diese sich nicht mit denen früherer Zeiten vergleichen lassen – wird der Unterschied deutlich. Heute ernten Landwirte im Bundesdurchschnitt circa 80 Dezitonnen Weichweizen pro Hektar, bei Einkorn oder Emmer liegt der Kornertrag zwischen 19 bis 35 Dezitonnen, bei Dinkel um die 50 Dezitonnen – je nach Standort und Sorte.

Zudem gehört Weichweizen zu den oben erwähnten Nacktweizen. Diese sind „freidreschend“, d.h. die Körner und die sie umhüllenden Spelzen trennen sich schon bei der Ernte mit dem Mähdrescher. Dagegen sind bei den Spelzgetreiden Korn und Spelz fest miteinander verwachsen und müssen in Schälmühlen in einem zusätzlichen Arbeitsschritt voneinander getrennt („geschält“) werden. Somit sind Weich- und Hartweizen müllerisch einfacher zu verarbeiten als die Spelzgetreide Einkorn, Emmer oder Dinkel.

Dinkel - als Nischengetreide nie verloren

Auch der schon früh als Kulturgetreide etablierte Dinkel wurde in den meisten europäischen Regionen von ertragreicheren Getreidearten wie Weizen, Roggen und Gerste abgelöst. In Deutschland blieb der Dinkelanbau in den beiden letzten Jahrhunderten nur in wenigen Regionen erhalten, zum Beispiel im heutigen Baden-Württemberg, in Bayern und der Schweiz, vielfach aber nicht mehr als Hauptgetreide. Als winterfeste, robuste Getreideart trotzte er den ungünstigen Klimabedingungen mit langen Wintern und nasskalten Sommern besonders gut und war in Gegenden mit kargen Böden und rauerem Klima eine gute Alternative zum Weizen.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verschwand auch der Dinkelweizen zugunsten des immer ertragreicheren und einfacher zu verarbeitenden Weichweizens zusehends von der Bildfläche. Erst im Zuge der Öko-Bewegung wurde er in den letzten Jahren wiederentdeckt und erlebt gerade eine Renaissance.

Anbau und Verarbeitung von Urgetreide heute

Heute bemühen sich viele LandwirtInnen, zusammen mit BäckerInnen, MüllerInnen und der Forschung um die Wiedereinführung der Urgetreide. Denn sie bieten neben geschmacklichen und verfahrenstechnologischen Besonderheiten auch bestimmte Resistenzen gegen Getreidekrankheiten, eignen sich für den Anbau unter klimatisch schwierigeren Bedingungen und tragen in landwirtschaftlichen Fruchtfolgen zur Artenvielfalt bei – Stichwort: Biodiversität.

Über die Herausforderungen der Züchtung berichtet zum Beispiel unsere Müllerin Monika Drax, Spezialistin für alte und vergessene Sorten von der Draxmühle in Rechtmehring:

“Wir sind auf die Spezialsorten gekommen, weil Kunden danach gefragt haben. Angefangen haben wir vor 25 Jahren mit Urdinkel. Über die Jahre sind viele alte Sorten dazugekommen. Gemeinsam mit unseren Bauern kultivieren wir diese wieder hier vor Ort, was harte Arbeit ist. Da kommen am Anfang eine Menge Fragen auf, angefangen von: Wie baue ich das an? Wie wird das auf dem Feld? Wie kann ich gewisse Sachen optimieren? Was gibt es hinsichtlich der Getreidekrankheiten zu beachten? Wie bekomme ich Getreide in Mühlenqualität und wie das beste Getreide vom Feld? Unsere Landwirte sind sehr interessiert und schätzen es, etwas Besonderes zu machen. Zudem können wir bessere Preise zahlen, was wiederum lukrativ für den Landwirt ist. Das wird ein Geben und Nehmen. So versuchen wir miteinander, alte Sorten am Leben zu erhalten.”

Über der Verarbeitung erzählt uns Müllermeister Volkmar Spielberger von der Spielberger Mühle:

„Bei der Verarbeitung von Urgetreide sind die Anforderungen an den Müller und seine Handwerkskunst viel größer, denn die Urgetreide verhalten sich anders, wenn sie aufgeschlossen und vermahlen werden. Wir Müller sagen sie sind molliger. Das heißt, ihr Mehl ist schlechter fließfähig, sie sind klebriger, lagern sich in den Rohrleitungen stärker ab, sie sind von der Verstaubung her viel verstopfender in den Förderelementen der Müllerei.“

Aber gerade das macht für den Müller auch den Reiz aus. Sein Kollege Denis Brosig ergänzt:

Müllerisch finde ich das Einkorn-Vollkornmehl spannend. Es ist es relativ anstrengend zu mahlen, man muss sich darauf einlassen und immer wieder versuchen, es so hinzubekommen, dass man das ganze Produkt verwerten kann.“

Weitere alte Getreidesorten

Übrigens: Auch bei Gerste und Roggen gibt es Urformen, die jedoch keine eigene Art bilden. Ein Beispiel hierfür ist der Bergroggen, bei dem es sich um eine Wildart des Roggens handelt. Kamut® stellt lediglich einen Produktnamen für Khorasan-Weizen dar, dessen genaue Herkunft noch unbekannt ist und in der iranischen Provinz Chorasan vermutet wird.

Zu kaufen gibt es die Urgetreide als Körner, Mehle oder Schrote im Mehlregal gut sortierter Supermärkte, in Biomärkten, Naturkostläden und Reformhäusern – oder auch direkt von Mühlen in Eurer Nähe, die in einem Mühlenladen ihre Mahlerzeugnisse aus Urgetreide neben weiteren Produkten verkaufen (Mühlen in Eurer Nähe findet Ihr in der Mitgliedersuche beim Verband Deutscher Mühlen).

Anne und Henriette von Mein Mehl

Buchtipps

Annelie Wagenstaller: Natürlich backen mit Urgetreide (BLV Buchverlag, Rezension und Interview mit der Autorin findet Ihr hier)

Monika Drax, Franziska Lipp: Köstliches von der Müllerin (Dort-Hagenhausen-Verlag)

Thomas Miedaner, Friedrich Longin: Unterschätzte Getreidearten Einkorn, Emmer, Dinkel & Co. (Agrimedia Verlag)